
Der folgende Text stammt von meinem Bruder Heinrich Köllner. Er ist erschienen in den Blättern zur Heimatkunde des Kreises Soest, Jahrgang 1993 Heft 3. Er ist im Original mit einem Anmerkungsapparat sowie einem Literaturverzeichnis versehen. Auf Beides wurde hier verzichtet. Außerdem wurde der Text um den Teil gekürzt, der sich mit der Bearbeitung des Themas im Geschichtsunterricht beschäftigt.
Der Boker-Heide-Kanal
von Heinrich Köllner
Der Boker-Heide-Kanal, so genannt nach dem Dorf “Boke” bei Delbrück, wird an seiner Einlassschleuse westlich von Paderborn-Schloß-Neuhaus, nur einige 100 Meter hinter der Mündung von Alme und Pader in die Lippe, mit Lippewasser gespeist. Sein Verlauf erstreckt sich auf einer Länge von 32 km über Delbrück bis nach Cappel bei Lippstadt, wo er wieder in die Lippe zurückfließt. Bis in die Mitte der 70er Jahre dieses Jahrhunderts war er als Bewässerungs- und Meliorationskanal in Betrieb. Mit Hilfe von 16 Hauptschleusen, zahlreichen Nebenkanälen, Be- und Entwässerungsgräben wurde das bis zu 3 km breite Meliorationsgebiet bewässert. Es wurden hierdurch Wiesen- und Ackerkulturen auf den ursprünglich kargen Heidesandböden ermöglicht.
Im Zuge der Flurbereinigung wurde in den 70er Jahren die jährlich zweimalige Wässerungsphase zugunsten einer ständigen Wasserführung aufgegeben, gleichzeitig aber auch die Bewässerungsfunktion eingestellt. Mit der Grundwasserspiegelerhöhung durchdie ständige Wasserführung einerseits und der erreichten Verbesserung der Böden andererseits war die aufwendige Bewässerungsfunktion überflüssig geworden.
Heute ist der Boker-Heide-Kanal nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel, sondern auch ökologisch wertvoll dadurch, dass sich an seiner wuchernden Uferböschung seltene Pflanzen- und Tierarten wieder angesiedelt bzw. erhalten haben. Die technischen Einrichtungen zur Bewässerungsfunktion jedoch verfallen zusehends.
Zur Geschichte des Boker-Heide-Kanals
Das Sennegebiet, die südöstliche Ecke des Münsterlandes um die Orte Brackwede, Hövelhof, Sennelager und Delbrück bis hin nach Lippstadt, war von jeher das Armenhaus Westfalens. So ist die Idee, die landwirtschaftliche Nutzung der kargen Sandböden durch Bewässerung zu verbessern, sehr alt. Schon der Paderborner Bischof Meinwerk (11. Jh.) hatte Pläne für die Bewässerung der Senne bei gleichzeitiger Entwässerung der zahlreichen Sümpfe.
Die Idee eines Bewässerungsprojektes wurde erst am Anfang des 19. Jahrhunderts vom 1. Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen, Ludwig Freiherr von Vincke, wieder aufgegriffen.
Die politischen Verhältnisse nach dem allmählichen Zerfall und der Zerstückelung des Reiches – das Sennegebiet war am Ende des 18. Jahrhunderts allein unter acht “Kleinstaaten” aufgeteilt – verhinderten bis dahin in größerem Rahmen liegende Projekte zum ökonomischen Fortschritt in der Region. Zwar wurden mit der Vereinheitlichung der Region (1803 preußisch) neue politische Gegebenheiten geschaffen, doch durch die neue preußische Gesetzgebung, wie z.B. die Allmende-Aufteilung und die Grundbesteuerung und schließlich in der französischen Zeit durch neue Steuern, Abgaben und Einquartierungen von Soldaten, wurde die ökonomische Lage der Bevölkerung der Region nur noch schwieriger. Die Krise in der westfälischen Leinenindustrie tat ihr übriges, so dass gerade die Sennebevölkerung, die besonders unter der verschärften Armut litt, gezwungen war, zumindest saisonal in die Arbeitsemigration zu gehen, wenn nicht sogar auszuwandern, um nicht zu verhungern.
Als Reaktion auf diese Probleme erarbeiteten preußische Politiker Vorschläge und Pläne zur Verbesserung der ökonomischen Situation der Senneregion. Zu erwähnen sind hier besonders die Vorträge des Landraths von Metternich au die Stände des Kreises Paderborn und C. H. Bitters “Bericht über den Notstand in der Senne …” (1853).
In Bezug auf das Kanalbauprojekt ist besonders o.g. Ludwig Freiherr von Vincke zu erwähnen. Auf seine Veranlassung hin fand in Herford 1832 eine Konferenz über die Lebensverhältnisse der Sennebewohner statt. Im Jahre 1834 ergriff er in einem Memorandum die Initiative zur Bewässerung der Boker Heide und des Lipper Bruchs.
Nach einigen Jahren der Planung, der politischen Vorbereitung und langer Überzeugungsarbeit an den Landeignern des betreffenden Gebietes, bewilligte 1849 das Ministerium für landwirtschaftliche Angelegenheiten in Berlin 108.000 Taler (ca. 320.000 Mark) Vorschuss für das Projekt, mit der Bedingung der Gründung einer “Sozietät”, einer Genossenschaft als Träger des Kanalprojekts. Diese “Meliorations-Sozietät Boker Heide” wurde am 24. Juli 1850 gegründet. Ihr1. Vorsitzender wurde Bauinspektor Wurffbain, dem die technische Abwicklung des Kanalbauprojektes übergeben worden war.
Mit dem ersten Spatenstich am 1. November 1850 begann der Bau des Kanals. Beim Bau selbst traten verschiedene technische Probleme auf, das man mit dieser Art der Bewässerungstechnologie kaum Erfahrung hatte. Hinzu kamen dann Auseinandersetzungen mit den Landeignern und auch mit den beim Bau beschäftigten Arbeitern. Noch als Auswirkung der Arbeiteraufstände der 48er Revoltution kam es zu Protesten wegen zu niedriger Löhne. Ein weiteres Problem war die Abwanderung von Arbeitskräften zum besser bezahlten Bau der Bahnlinie Paderborn-Warburg. Dies alles führte dazu, dass der Boker-Heide-Kanal erst im Jahre 1853 mit einer Verzögerung von 1 1/2 Jahren offiziell eröffnet wurde.
Mit der Eröffnung des Kanals waren aber keineswegs alle Probleme der Boker-Heide-Sozietät mit ihrem Sitz in Delbrück gelöst. Im Gegenteil galt es in der Folgezeit immer wieder, neue Hürden zu überwinden. Langwierige Prozesse wurden beispielsweise mit den Müllern in Lippstadt geführt. Sie klagten gegen die Sozietät, weil sie Nachteile für ihre Mühlenbetriebe durch die Entnahme von Lippewasser für den Kanal befürchteten. Erst 1878 kam es zum Vergleich, in dem die Sozietät einer einmaligen Ausgleichszahlung an die Müller zurstimmte.
Schließlich hatte das Bewässerungssystem des Kanals selbst noch erhebliche Mängel. So erwies sich die “wilde Berieselung”, d.h. die Bewässerung des Meliorationsgebietes ohne geordnete Rückläufe, sehr schnell als mangelhaft. Es kam an einigen Stellen zu Versumpfungen oder Überschwemmungen, was einerseits zu neuen Prozessen mit den geschädigten Landeignern führte, andererseits abermalige Baumaßnahmen für die Verbesserung des Systems und damit neue Kosten verursachte.
Dies führte dazu, dass der Staat mehrfach neue Kredite gewähren oder alte stunden musste. Bis 1915 waren die Gesamtkosten für den Kanal von anfänglich ca. 324.000 Mark auf 1.894.000 Mark angewachsen. Das gesamte Projekt konnte sich erst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts amortisieren.

Mein Literaturtipp:
Gudermann, Rita: “Dat bietken Waater” 150 Jahre Wasser- und Bodenverband Boker Heide 1850 -2000, Delbrück 2000.
Stöber, C.: Die Boker Heide in Vergangenheit und Gegenwart, Paderborn 1931
Tönsmeyer, Josef: Das Lippeamt Boke, herausgegeben von der Amtsverwaltung Salzkotten-Boke 1968.